Lektion 8: Paulus - eigener Versuch einer Gesamtdarstellung

Forschungsgeschichtlicher Überblick
Gott
Die Heilige Schrift
Der alte Äon
Der neue Äon
Soteriologie
Paulinische Ekklesiologie
Ethik

 

4. Der neue Äon

Grundlegendes Datum des neuen Äons ist die Auferweckung des gekreuzigten Jesus Christus, die für Paulus Gottes Selbsterschließung insofern impliziert, als der Weg Jesu Christi von der Präexistenz bis hin zum Tod am Kreuz die Basis unseres Heils und zugleich das Ur- und Vorbild christlicher Existenz darstellt. Soteriologie, Ethik und Ekklesiologie sind christologisch gegründet. Die zentrale frühjüdische und vom Christentum übernommene Anforderung, dass der Mensch Gottes Willen entsprechend leben soll, ist nun nicht mehr ohne Verweis auf Jesu Ur- und Vorbild zu explizieren. Von daher ist es sachgemäß, nunmehr paulinische Christologie darzustellen.

Christologie

Was ist für Paulus an Jesus von Bedeutung? Von seinem irdischen Lebensweg sind es nicht seine Machttaten und ist es nur bedingt seine Verkündigung: Der für Jesus zentrale Begriff der Gottesherrschaft wird an den wenigen paulinischen Belegen nie mit der Person Jesu in Beziehung gesetzt. Das Zitat lediglich dreier Herrenworte im unbestrittenen Corpus Paulinum würde die Bedeutung der Person Jesu Christi nicht kenntlich machen, zumal wir auch an anderer Stelle im Corpus Paulinum Herrenworte erwarten könnten, wo Paulus aus eigenem heraus argumentiert, umgekehrt manches in den ethischen Mahnungen des Paulus uns an synoptische Tradition erinnert, ohne dass es Paulus als Jesuswort zitiert. Ausschlaggebend für Paulus sind die Hauptstationen des Weges Jesu, vor allem Kreuz und Auferweckung, aber auch die Inkarnation. Doch tut sich hier abermals die Möglichkeit eines Missverstehens auf: Es geht Paulus keineswegs nur um das „Daß“ des Gekommenseins Jesu Christi und um seinen stellvertretenden Sühnetod als Basis unseres Heils. Vielmehr ist Jesu Weg Ur- und Vorbild auch der christlichen wie auch speziell der apostolischen Existenz.

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4.1. Christologische Hoheitstitel

Der Christustitel bezeichnet die heilsgeschichtliche, die soteriologisch grundlegende und die existentielle, der Titel „Herr“ die ethische und ekklesiologische Dimension des Christusereignisses, der Sohnestitel Jesu unüberbietbare Vollmacht, seine Nähe zum Vater und die Intensität der Beziehung zu uns (Gal 2,20).

Der Christustitel impliziert folgende Aspekte:

1. Jesus ist Bestandteil (Gal 3,16.24; 2 Kor 3,14) und Ausführender des Planes Gottes (Röm 15,16-21) mit Israel und der Menschheit (hierher gehören die Adam-Christus-Typologien 1 Kor 15,22f.; Röm 5,19.21), wo jeweils die Titel „Herr“ und „Gottessohn“ keinen rechten Sinn ergäben). Jesus ist Ausführender der Erlösung (Röm 3,24), der göttlichen Liebe (Röm 5,6.8), indem er den Fluch, der uns gelten müsste, am Kreuz auf sich nimmt (Gal 3,13). Der Titel wird daher gebraucht, wenn auf die vorausliegende Basis unseres Heils in seinem Kreuz verwiesen werden soll (1 Kor 8,11; 10,16). Daher ist der Begriff „Evangelium“, wenn er nicht mit Gott dem Vater verbunden ist, allermeist auf den Christustitel bezogen (1 Thess 3,2; 2 Kor 9,13; 10,14; Gal 1,11) und insofern Rückverweis auf die Basis unseres Heilsstandes in Jesu Kreuz. Nur ein einziges Mal in Röm 1,9 wird der Begriff Evangelium auf den Sohnestitel bezogen (er steht hier stellvertretend für den Christustitel, weil die Nähe Jesu als des Inhaltes des Evangeliums zu Gott betont werden soll), nirgends jedoch mit dem Titel „Herr“ (das erst in 2 Thess 1,8). Wird „Christus“ vom Titel zum Eigennamen, so begründet sich auch die folgende Unterscheidung vom Kyriostitel: Der Christustitel hat seinen Schwerpunkt in dem, was ihn selbst betrifft, der Kyriostitel in dem, was uns betrifft.

2. Von daher benennt der Titel Jesus auch als den Auftraggeber des Apostels (1 Thess 2,7; 1 Kor 4,1; 2 Kor 5,20; Phil 2,21; Philemon 10.23, in Philemon 23 für Epaphras, also nicht auf die Person des Paulus beschränkt).

3. Die Dimension des Lebensweges Jesu mit doppeltem Ausgang wird benannt: Er stammt aus Israel (Röm 9,5), und er ist der Gekreuzigte (1 Kor 1,17.23; Gal 2,21; 3,1) und Auferstandene (1 Kor 15,3-20). Diese geschichtliche Dimension hat aber existentielle Konsequenzen, nämlich

4. die Bestimmung unserer Existenz durch Christus als den Gekreuzigten (Gal 2,19f.; Phil 3,18; Röm 6,3). In Phil 3,10f. sowie in Röm 6,3f.8f.; 8,10f.; 8,17 sind die Gleichgestaltung unserer Existenz mit Tod und die Gleichgestaltung unserer Existenz mit der zukünftigen Auferweckung Christi tatsächlich verbunden.

5. Als weitere existentielle Konsequenz dieser geschichtlichen Dimension ergibt sich die Christuskonformität der apostolischen Existenz (1 Kor 11,1), speziell in seiner Liebe (2 Kor 5,14) und Milde (2 Kor 10,1) und in der Bereitschaft, Leiden auf sich zu nehmen (1 Kor 4,10; 2 Kor 1,5; 4,7-12).

6. Ebenso ergibt sich als Konsequenz die Bestimmung auch des Lebens in der Gemeinde (2 Kor 8,9; Phil 2,5).

7. Insofern übernimmt der Christustitel auch Dimensionen, die dem Kyriostitel zukommen (vgl. 1 Kor 6,11 mit 1 Kor 6,13), vor allem im Galaterbrief, wo der Verweis auf den kyrios („Herr“) nicht eindeutig genug die Beziehung auf Jesus Christus zum Ausdruck bringen würde.

Der Begriff „Herr“ wird nie mit dem Begriff „Evangelium“, nur einmal mit dem Begriff „Kreuz“ (1 Kor 2,8) verbunden (um dessen Paradoxie zu bezeichnen), mit dem Thema der Auferweckung Jesu in Röm 4,24 sowie an zwei Stellen, bei denen aus seiner Auferweckung unsere Auferweckung gefolgert wird (1 Kor 6,14; 2 Kor 4,14). Die ekklesiologische Relevanz des Titels wird schon an seiner quantitativen Verteilung innerhalb der Paulinen sichtbar: im Römerbrief ist der Titel 32 mal auf Christus bezogen, davon 19 mal allein in Röm 14-16, und in 1 Kor begegnen über 50 auf Christus bezogene Kyriosbelege. Jesus ist Herr als die summarisch die bestimmende Wirklichkeit für die Existenz des einzelnen (1 Kor 6,13; 12,3; Röm 10,9; 14,1-12) wie der Gemeinde (1 Thess 3,11; 5,28; 1 Kor 5,4; 10,21; 11,23-26; 14,37; Röm 14,4-12.14) wie des Apostels (2 Kor 5,11; 10,8; 11,17; 12,8). Die Worte Jesu 1 Kor 7,10; 9,14 werden als Worte des Kyrios und damit als autoritativ eingeführt. Typisch ist, daß der Kyriostitel in 1 Kor 11,23-26 den Christustitel ersetzt: Paulus blickt auf die unmittelbaren Konsequenzen der Herrenmahlsüberlieferung für die korinthische Praxis. Die im 1 Thess viermal (2,19; 3,13; 4,15; 5,23) nachweisbare Verbindung „Parusie unseres Herrn Jesu Christi“ tritt später so nicht mehr auf; „Parusie“ wird noch einmal mit dem Christustitel verbunden (1 Kor 15,23). Der Kyriostitel ist aber mit der Wiederkunft Christi auch noch in 1 Kor 1,7f.; 5,5; 2 Kor 1,14; Phil 3,20; 4,5 verbunden. Typisch für die unterscheidende Verbindung zum Christustitel ist Röm 14,9: Weil der Christus für uns gestorben ist, ist er unser Herr. Ähnlich sind auch in Röm 14,14f. zwischen beiden Titeln die Nuancen verteilt. Von daher erschließt sich der Sinn der Formel „unser Herr Jesus Christus“ (1 Thess 5,9 u.ö.): Christus ist er in dem, was um unseretwillen ihm selbst widerfahren ist, Herr in dem, dass seine Tat soteriologisch wie ethisch unser Leben bestimmt. Der Christustitel hat seinen Schwerpunkt in dem, was ihn selbst betrifft, der Kyriostitel in dem, was uns betrifft. Deshalb steht die genannte Formel „unser Herr Jesus Christus“ oft zu Beginn (Röm 5,1) oder zum Abschluß (Röm 5,11.21; 6,23; 7,25; 8,39) größerer Gedankengänge. Wie verhalten sich der Christustitel und der Kyriostitel zum Apostolat des Paulus? Als Kyrios ist Jesus die Norm, der sich der Apostel gegenüber sieht, als Christus ist Jesus die Prägung apostolischer Existenz.

Der Sohnestitel umfasst folgende Aspekte:

1. Der Sohn ist der höchste Gottesbote und direkter Bevollmächtigter (so 1 Thess 1,10; 1Kor 15,28; Röm 1,4 sowie die Präexistenzaussagen Gal 4,4 und Röm 8,3).

2. Der Sohn steht in nächster persönlicher Nähe zum Vater. Seine Selbsthingabe bezeugt die Liebe des uns in seinem Status so unendlich Überlegenen (Gal 2,20), seine Hingabe durch den Vater dessen besondere, alles einsetzende Liebe zu uns (Röm 5,10; 8,32).

3. Diese Nähe bedeutet auch unsere Nähe zu Gott, die wir dem Ebenbild des Sohnes Gottes gleichgestaltet werden (Röm 8,29), mit ihm Gemeinschaft haben (1 Kor 1,9).

4. Sein Verhalten lässt das Verhalten Gottes sehen und wird uns zum Vorbild (2 Kor 1,19)

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4.2. Kreuzestheologie

Das Kreuz Jesu Christi ist für Paulus (Dieser spezifische Akzent fehlt in 1 Thess) sichtbares Zeichen der Selbstunterscheidung Gottes von der Welt in mehrfacher Hinsicht:

1. Das Wort vom Kreuz als der bestimmende Inhalt des Evangeliums (Gal 3,1) ist den Griechen Torheit (1 Kor 1,18.23) und den Juden Ärgernis (1 Kor 1,18.23; Gal 5,11; 6,12). Den Griechen ist es Torheit, weil es unsinnig ist, jemanden zu verehren, der den Tod des Verbrechers und des entlaufenen Sklaven gestorben ist, den Juden ist es ärgerlich, weil dieser Tod Jesu das Nein Gottes zu Jesu Lebensweg impliziert. Von den Hörern wird also eine Neubewertung des Status Jesu verlangt.

2. Dem Charakter des Wortes vom Kreuz als Ärgernis und Torheit entspricht der niedrige soziale Stand der Gemeinde inmitten ihrer Umwelt: Gott hat das Unwerte und Verachtete erwählt (1 Kor 1,26-31), damit eine Umwertung des sozialen Status der Christen in der Welt vollzogen. Honour and Shame werden von Gott neu definiert!

3. Das Wort vom Kreuz Jesu Christi bestimmt als Wort menschlicher Torheit die Gestalt der apostolischen Verkündigung 1 Kor 2,2, das Kreuz Christi bestimmt die Gestalt der apostolischen Existenz in leidenstheologischer Perspektive (1 Kor 4,10) und der christlichen Existenz in ethischer Perspektive: Wir sind mit Christus gekreuzigt (Gal 2,19) - wir kreuzigen unser Fleisch (Gal 5,24), durch das Kreuz Christi sind wir der Welt, dem kosmos gekreuzigt und er uns (Gal 6,14); unser alter Mensch ist gekreuzigt (Röm 6,6). Der Lebensweise der „Feinde des Kreuzes Christi“ (Phil 3,18) soll sich der Christ nicht anpassen. Gottes Selbstunterscheidung von der Welt und ihren Maßstäben zieht für die Glaubenden die existentiell auch schmerzliche Umwertung von Werten nach sich.

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4.3. Jesu Auferstehung ist Gegenstand bereits der vorpaulinischen Verkündigung (1 Kor 15,4; Röm 10,9). Für Paulus hat sie mehrere Konsequenzen:

1. Sie verbürgt die Gewissheit unserer Auferstehung (1 Thess 4,14; 1 Kor 15; 2 Kor 4,14; Röm 8,11). Die These einiger Korinther, es gebe keine Auferstehung der Toten (1 Kor 15,12), ist für Paulus deshalb nicht nachvollziehbar.

2. Sie impliziert von daher die Forderung nach einem neuen Wandel der Christen (Röm 6,4-9; vgl. aber schon 1 Kor 6,14), der sich von der Haltung des „Lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot“ (1 Kor 15,32) deutlich unterscheidet.