Lektion 8: Paulus - eigener Versuch einer Gesamtdarstellung

Forschungsgeschichtlicher Überblick
Gott
Die Heilige Schrift
Der alte Äon
Der neue Äon
Soteriologie
Paulinische Ekklesiologie
Ethik

 

7. Ethik

Ethik hat in einem ersten Teil paulinische Anthropologie zu bedenken, bevor dann gemäß der üblichen Einteilung - Formale und materiale Ethik auch Paulus dargestellt wird. Motivationen sind genauso wie die einzelnen Handlungsfelder zu bedenken.

7.1 Paulinische Anthropologie ist am ehesten anhand der Begrifflichkeit zu entfalten. Den Begriff soma (Leib) betreffend, hat man darum gestritten, ob soma den Menschen als Individuum oder als Beziehungswesen bezeichne. Beides ist richtig. Mein Körper ist mir unmittelbar, weswegen die Unverletzlichkeit der Person zunächst als Unverletzlichkeit des Körpers zu definieren ist; mit meiner ganzen Person bin ich aber auch in Beziehungen zu anderen involviert. Die Leiber sind Tempel des Heiligen Geistes (1 Kor 6,19), also ethisch nicht einfach irrelevant. Ethik ist in 1 Thess und 1 Kor Ethik der Heiligung - gerade in Briefen an heidenchristliche Gemeinden besteht entsprechender Formulierungsbedarf.

Der Begriff sarx (Fleisch) kann neutral die Kreatürlichkeit bezeichnen (so von Christus Röm 1,3; 9,5, vom Apostel 2 Kor 4,11; allgemein vom Menschen Gal 2,20), meint aber häufiger die Sündlichkeit des Menschen. Wir leben im Fleisch, aber nicht nach dem Fleisch, unter den Bedingungen unserer Kreatürlichkeit, aber nicht der Sünde verfallen. Zur Abgrenzung von soma soviel: Natürlich ist das soma auch das, worin sich unsere Begierde austobt, und das Verfallensein an die Begierde ist typisch für die Heiden, die von Gott nichts wissen (1 Thess 4,5). Der Christ wird gemahnt, für das soma nicht so zu sorgen, dass den Begierden gedient wird (Röm 13,14). Doch gibt es auch das „nach den Maßstäben der sarx denken“; die Korinther sind in ihrer pneumatischen Überheblichkeit „fleischlich“ (1 Kor 3,1), die Gegner des Paulus rühmen sich ihrer Missionserfolge im Urteil des Paulus „nach dem Fleisch“ (2 Kor 11,18) es gibt auch die „fleischliche Weisheit“ (2 Kor 1,12). Auch der nus ist der Erneuerung bedürftig (Röm 12,2). Weil das Handeln „nach dem Fleisch“ als gefährliche Möglichkeit stets präsent ist, bewährt sich wirkliche Vollkommenheit, wirklicher Geistbesitz in dem Wissen um die eigene Fehlbarkeit (Gal 6,1-5), das wiederum vor Lieblosigkeit im Urteil über den anderen Bruder bewahrt. „Wer meint zu stehen, sehe zu, daß er nicht falle“ (1 Kor 10,12).

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7.2. Motivationen des Handelns:

Literatur zur Weiterarbeit: Merk, O., Handeln aus Glauben. Die Motivierungen der paulinischen Ethik, MThSt 5, Marburg 1968.

7.2.1. Begründungen des Gebotenen

7.2.1.1. Das uns vorausliegende Heilsgeschehen Indikativ – Imperativ

Schon in 1 Thess 2,12 ist der Zusammenhang greifbar, wo Paulus die Thessalonicher zu einem des berufenden Gottes würdigen Wandel auffordert, denn Soteriologie ist im 1 Thess wesentlich Soteriologie der Erwählung und Berufung. Der Zusammenhang zieht sich dann aber durch die ganze Paulusliteratur (1 Kor 5,7f.; Gal 5,25; Röm 13,14; dazu vgl. den Imperativ in Gal 3,27) und ist in Röm 15,7 explizit formuliert. Hier ist auch im grammatischen Tempus ausgedrückt, was manchmal nur als geistige Idee vorschwebt: Die indikativische Aussage steht in einem Vergangenheitstempus. Gottes vergangenes, d.h. mir vorausliegendes Handeln ist Grundlage meines gegenwärtigen Heils.

In dieser Abfolge Indikativ - Imperativ ist beides gleichermaßen ernst zu nehmen. Also nicht: Indikativ gilt in der Theorie, Imperativ gilt dann, wenn Paulus seinen Blick auf die realen korinthischen Verhältnisse richtet. Das verfehlt nicht nur den Indikativ, sondern auch den Imperativ, der in der Kategorie „Eigene sittliche Arbeit“ ebenfalls nicht recht zu erfassen ist. Ferner: Indikativ und Impera-tiv haben den selben Inhalt. Es geht bei dem Imperativ nicht nur um letzte Schmutzreste, die noch zu beseitigen wären. Schließlich: Es sind die selben Christen mit Indikativ und Imperativ angeredet. Also nicht: Der Indikativ für die Vollkommenen, der Imperativ für die noch zurückgebliebenen.

7.2.1.2. Unser Sein im neuen Äon (vgl. z.B. Röm 12,2: Stellt euch nicht diesem Äon gleich). Das Verhältnis zwischen den Begriffen aion (Äon) und kosmos läßt sich vielleicht so umschreiben: aion betont den zeitlichen Aspekt, die räumliche zwischen der Welt Gottes und dieser Welt. Weil der Christ im neuen Äon lebt, ist er auch dem kosmos gekreuzigt und der kosmos ihm (Gal 6,14); d.h. die Maßstäbe dieser Welt haben für ihn keine Gültigkeit mehr.

Im unmittelbaren Widerspruch dazu zu stehen scheint die Begründung

7.2.1.3. in der Rücksicht auf „die draußen“ (1 Thess 4,12; Phil 4,8).

Paulus ist offenbar nicht der Meinung, daß sich christliches Verhalten immer von heidnischem unterscheiden müßte. Was in der Welt um die Christen herum als Tugend gilt, dem sollten sie durchaus nachstreben. Auch in unserer Gesellschaft wird Tugend gelehrt und gelebt unter bewußtem Verzicht auf christliche Motivation. Philosophischer atheistischer Humanismus stellt am ehesten die Anfrage, ob man Christ sein muß, um ein guter Mensch zu sein. Andererseits steht auch dieses Aufnehmen von ethischen Werten aus der Umwelt immer unter dem Vorbehalt von Phil. 1,10 und 1. Thess 5,21: Prüfet alles, das Gute behaltet.

In den Pastoralbriefen hat sich das unter zunehmendem Legitimationsdruck in einer Weise verselbständigt, die heute, da der Druck weg ist oder eigentlich von entgegengesetzter Richtung auf uns zukommt, nicht mehr unbedenklich übernommen werden kann. So wird vor allem die Frau in den Pastoralbriefen mit Rücksicht auf die damals konservative gesellschaftliche Option auf ihre Funktionen in Haus und Familie eingeschränkt.

7.2.1.4. Motivation um Ur- und Vorbild Christi als des Herrn (vgl. das zu den Titel „Christus“ und „Herr“ Gesagte). Es sind die Demut und Erniedrigung Christi, die Rücknahme seiner selbst, zur Nachahmung anempfohlen. Der Lebensweg Jesu Christi in Inkarnation und Kreuzestod ist für unsere Existenz bestimmend (Gal 2,19f.; Phil 3,18; Röm 6,3), und Jesus ist Herr als die summarisch die bestimmende Wirklichkeit für die Existenz des einzelnen (1 Kor 6,13; 12,3; Röm 10,9; 14,1-12) wie der Gemeinde (2 Kor 8,9; Phil 2,1-4). - Natürlich kann man darüber räsonieren, daß uns die Inkarnation nicht nachahmbar ist, weil wir einen solchen Statuswechsel aufgrund mangelnder Voraussetzungen nicht durchmachen könnten. Judentum und Alte Kirche dachten anders: „Wie Gott Nackte bekleidet und Tote begraben hat, - das erste und das letzte Liebeswerk Gottes in der Thora -, so bekleide auch Du Nackte und Tote“. - „Wie Jesus nicht nur predige, sondern seine Worte auch durch Wundertaten bekräftigte, so rede auch du nicht nur, sondern erweise Barmherzigkeit, damit dein Wirken nicht nur in Worten bestehe“ (so Theophylakt von Ochrid, zu Mk 1,39). Demut und Erniedrigung Jesu werden anempfohlen, nicht etwa eine Verhaltensweise einer gewissen Stärke, wie wir es aus manchen Streitgesprächen Jesu kennen.

7.2.1.5. Neben der soteriologischen und der christologischen steht die pneumatologische Begründung. Der Heilige Geist wirkt den rechten Wandel, nicht in Unreinheit, sondern in Heiligung (1 Thess 4,7f.); er bestimmt das christlich-sittliche Leben (Röm 8,4f.13; Gal 5,16.25). Das paulinische Geistverständnis hat S. Vollenweider so zusammengefaßt: »Der eingehende göttliche Geist ersetzt also nicht das Ich als Erlebens- und Verhaltenszentrum des geschichtlichen Menschen, sondern er durch-ringt es. Zugespitzt formuliert: Das Pneuma handelt nicht anstelle unseres Selbst, son-ern als unser Selbst« . In unterscheidender Nuancierung gegenüber der soteriologischen und der christologischen Begründung kann man sagen: Der Heilige Geist wirkt die christlichen Tugenden; denn in dem Begriff des pneuma (Geist) ist anthropologisch-ethisch die Opposition zur sarx (Fleisch) mitgesetzt, als deren Charakteristika die pathemata (Leidenschaften) und die epithymia (Begierde) gelten, beides nach griechisch-philosophischer Tradition verpönt und, was die epithymia betrifft, auch biblisch verboten. Daß der Heilige Geist zugleich Norm unseres christlichen Wandels ist, wird später zu benennen sein.

Nicht eigentlich hierher gehört, daß die agape auch die Erfüllung der Thora (Gal 5,14; Röm 13,8-10) darstellt. Wer das Liebesgebot hält, der ist gehorsam gegenüber der Thora, und ihm fehlt in dieser Hinsicht nichts. Die Thora ist sachliche Norm für gewisse Teile der materialen Ethik, aber nur bedingt Motivation.

7.2.2. Begründungen der Verbote:

7.2.2.1. Auch für Verbote ist eine Begründung in dem uns vorausliegenden Heilsgeschehen möglich, das dann wenigstens der Sache nach als unsere Heiligung durch Gott für Gott verstanden wird (1 Kor 5,7f.).

7.2.2.2. Die Gemeinschaft mit Christus führt nicht in die ethische Indifferenz. Paulus weist die darauf zielende Frage „Sollen wir also sündigen, damit die Gnade umso mächtiger werde“ in Röm 6,1f. vehement ab. Einen Bereich ethischer Indifferenz kennt Paulus ebenso wenig wie die gesamte frühjüdische Tradition. Die heutige landläufige Berufung auf den Begriff der Freiheit bei Paulus ist erheblich zu revidieren. Daß es ein programmatisch liberales Judentum in der Antike gegeben haben soll, ist mir historisch gesehen nicht wahrscheinlich. Auch da in frühjüdischer Literatur, wo Juden mit Nichtjuden positiv Kontakt aufnehmen können - bis hin zur Eheschließung -, wissen sich die jüdischen Partner uneingeschränkt an die Thora gebunden. Joseph schläft nicht vor der Hochzeit mit Aseneth (JosAs 21,1), und den 72 jüdischen Weisen des Ps-Aristeasbriefes werden koschere Speisen serviert. Erst recht hält sich Judith auch im feindlichen Lager an die Speisevorschriften und an das 6. Gebot. Was dem Pharisäer Paulus in Fragen des Ethos wichtig war, bleibt es auch dem christlichen Pharisäer Paulus.

Gemeinschaft mit Jesus bedeutet allgemein, der Sünde abgestorben zu sein, ihr nicht mehr zu dienen (Röm 6,1-11). Im speziellen schließt sie die Gemeinschaft mit der Prostituierten aus (1 Kor 6,13). Die partizipatorische Terminologie an diesen Stellen drückt die Intensität der Christusbindung aus und konnte Paulus aus folgendem Grund als hilfreich erscheinen: Gerade die Heidenchristen erfuhren in der Verkündigung der Apostel von einem bisher für sie völlig unbekannten Lebenszusammenhang, Tod und Auferweckung Jesu betreffend; wie sollten sie annehmen, daß dieser Tod und dieses Mirakel fernab in Palästina auch für die eigene Existenz bestimmend sein könnte?

Einführung in die Gemeinschaft mit Christus muß als Befreiung von der alten und Unterstellung unter eine neue Herrschaft verstanden werden.

Nach Paulus steht der Mensch so oder so in einem Dienstverhältnis - entweder er gehorcht der Sünde, oder er gehorcht der Herrschaft Christi. In der Nachfolge dieser paulinischen Ausführungen wird christlicherseits eine autonome Begründung menschlicher Freiheit gerne als Illusion bezeichnet - man kann aber auch die Gegenrechnung aufmachen. Frei ist nach antiker philosophischer Vorstellung derjenige, der erkannt hat, daß ihn in seinem eigenen Urteil über Gut und Böse niemand zwingen kann, Gut für Böse und Böse für gut zu halten. Der christliche Gegenschlag macht sich ein modernes Argument zunutze, dem gemäß niemand, auch ich nicht, wirklich frei entscheide, sondern immer von Vorprägungen her bestimmt. Gewiß - darüber hat aber antike Philosophie genauer reflektiert als christliche Theologie; antike Philosophie hat eine ganze Erkenntnislehre ausgearbeitet, die sich auch diesem Problem stellt, in der Frage, wie wir eigentlich zu unserer Bildung von Begriffen kommen. Zugunsten des Christentums sollte man also nicht auf die psychologischen Schwierigkeiten der autonomen Begründung menschlicher Freiheit verweisen.

7.2.2.3. Die verletzliche Heiligkeit des Leibes als des Tempels Gottes (1 Kor 6,19) verbietet den Gang zur Prostituierten. Dieses Argument kann mit dem der Gemeinschaft kombiniert sein, weil Gemeinschaft mit Christus letztendlich Gemeinschaft mit dem Heiligen Gott ist.

7.2.2.4. Das Wissen um die vergehende Gestalt dieser Welt führt zum berühmten paulinischen „haben als hätte man nicht“ (1 Kor 7,29-31): Man soll sich nicht an die Dinge binden. Röm 13,11-14 kann den gesamten Abschnitt Röm 12,1-13,7 als in der Gewißheit des neuen Äons begründet erscheinen lassen.

7.2.2.5. Horizont des Jüngsten Gerichtes nach den Werken (1 Thess 5,1-11; 1 Kor 11,29.34; 2 Kor 5,10); Gefahr des Ausschlusses von der Gottesherrschaft (1 Kor 6,9-11; Gal 5,19-21). Dabei hält Gal 6,5 explizit den Gedanken fest, daß im Jüngsten Gericht jeder seine eigene Last tragen wird. Auch in frühjüdischer Apokalyptik ist es stehende Überzeugung, daß im Endgericht kein Erbarmen mehr für die Sünder möglich ist, vgl. 4 Esr 8. - Zu diesen Stellen nicht wirklich in Gegensatz steht das schon benannte Motiv, dass sich Paulus für den Zustand seiner Gemeinden im Jüngsten Gericht haftbar weiß. Das Motiv will in 1 Kor 3,12-15 zur rechten Beurteilung der korinthischen Schulhäupter anleiten, in 2 Kor 11,2 die Gemeinde an die Verkündigung des Paulus binden, gegen die Verkündigung eines anderen Jesus, eines anderen Geistes, eines anderen Evangeliums, und in Phil 2,16 zu einem adäquaten innerhalb der Gemeinde mahnen. Das Motiv ist ein argumentum secundum hominem, in jüdisch haggadischer Freiheit gebraucht und keine dogmatische Aussage über die Verantwortlichkeit oder Nicht-Verantwortlichkeit des Menschen für seine private Lebensführung.

Bezeichnet das Gewissen bei Paulus eine das Verhalten des Menschen anhand vorgegebener Normen beurteilende Instanz, so schließt sich sachlich an die Frage nach den

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7.3. Normative Größen, an denen unser Handeln gemessen wird:

Die schon im Zusammenhang der Begründung christlichen Handelns genannte Orientierung am Urbild und Vorbild Christi, seiner Selbsterniedrigung in Inkarnation und Kreuz ist natürlich auch seine Norm. Daneben gilt die Thora als Norm, welcher der Mensch positiv im Tun der Nächstenliebe entspricht. Negatives Verhalten wird nur summarisch, aber nicht in Form einer Argumentation mit einer alttestamentlichen Einzelstelle, als mit der Thora unvereinbar benannt (Röm 8,7: Der fleischliche Mensch mag sich nicht in die Thora Gottes schicken).

Wandel im Geist ist Orientierung an dem, was Gott wohlgefällig ist. Das ergibt sich nicht nur als Umkehrschluß aus Röm 8,7, sondern auch aufgrund frühjüdischer Vorstellungen. In 1QH 8,10-12 betet der Beter: „Und da ich weiß, daß Du festgeschrieben eines Gerechten Geist, habe ich mir erwählt, meine Hände zu reinigen gemäß Deinem Willen, und die Seele Deines Knechts verwarf jede 11 Unrechtstat. Und ich erkenne, daß keiner gerecht ist außer Dir! Und ich besänftige Dich durch den Geist, den Du gegeben, um zu vollenden 12 Deine Huld an Deinem Knecht auf ewig, um mich zu reinigen durch den Geist Deiner Heiligkeit.

Freiheit ist nach unserem Verständnis Freiheit der Entscheidung, d.h. der Wahl zwischen verschiedenen möglichen und legitimen Handlungen.

Freiheit bewährt sich in 1 Kor 9 als Freiheit zum Verzicht und äußert sich in 1 Kor 10,29 aber auch zum Urteil des Paulus darüber, wie er es für sich selbst mit dem Genuß von Götzenopferfleisch hält. An dieser Stelle kommt Paulus am ehesten dem popularphilosophischen Verständnis von Freiheit als Freiheit des eigenen Urteils nahe.

Im Galaterbrief bringt in polemischer Situation die Wendung Freiheit des Evangeliums’ (Gal 2,4; wieder aufgenommen in Gal 5,1.13) auf den Punkt, warum Paulus nicht neben dem Evangelium doch auch noch die „Werke der Thora“ vor allem in ihrer kultischen und rituellen Dimension zur Bedingung der Heilsteilhabe der Heidenchristen macht. Doch sucht Paulus schon im Galaterbrief dem Mißverständnis zu wehren, für ihn sei christliche Freiheit im Endeffekt wenig anderes als unterstützende Ausgangsbasis für die Betätigung des Fleisches (Gal 5,13). Gegen entsprechende Vorwürfe, seine Theologie führe zu sittlicher Laxheit, muß sich Paulus im Römerbrief immer wieder verteidigen.

In Röm 14 urteilt Paulus in der Frage der reinen und unreinen Speisen sachlich gesehen von dem Gedanken der Freiheit aus, gerade da, wo er seinen diesbezüglichen Grundsatz in Röm 14,22 mit den feierlichen Worten „Ich weiß und bin gewiß in dem Herrn Jesus“ einführt. Hier verwirklicht Paulus auch selbst ein Stück Freiheit: Während Lev 11 das Verbot des Essens unreiner Tiere mit dem Gedanken der Heiligkeit des Volkes Israel verknüpft, teilt Paulus diese Konsequenz nicht, obwohl seine Ekklesiologie ebenfalls vom Konzept der Heiligkeit her gedacht ist und damit biblische Theologie zu sein beansprucht. Doch der Begriff der Freiheit fehlt. Ansonsten ist im Römerbrief mit der Ausnahme Röm 8,22 nur von der Freiheit von der Sünde (Röm 6,18.22) und von der früheren Freiheit von der Gerechtigkeit (Röm 6,20) die Rede, der Begriff der Freiheit nicht zu denken ohne die neue bzw. alte Herrschaft. Gegenüber dem Galaterbrief ist der Begriff der Freiheit zweifellos in seinem Spektrum reduziert. Damit soll nicht gesagt sein, daß aus dieser innerpaulinischen Reduktion eine zwingende Verpflichtung für das heutige Reden von christlicher Freiheit erwächst, doch verdient der genannte Sachverhalt durchaus Aufmerksamkeit.

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7.4. Materiale Ethik:

Das zu Texten wie 1 Thess 4,1-8; 1 Kor 5 - 7; Röm 13,1-7 Gesagte soll hier nicht wiederholt werden.

Die Mahnung zur Tugend und die Warnung vor dem Laster verbinden Paulus mit frühjüdischer und dann auch mit hellenistischer popularphilosophischer Literatur, und zwar so sehr, daß man den Eindruck haben kann, die materiale Ethik des Paulus unterscheide sich kaum von der einschlägigen popularphilosophischen Ethik seiner Zeit (Bultmann; Dibelius). Das ist bedingt richtig, aber im einzelnen zu modifizieren.

1. Frucht des Geistes kann Paulus in Gal 5,22-24 auch in einem Tugendkatalog spezifizieren. Dabei fällt auf: Es fehlen Tu-genden, die das menschliche Subjekt als in gesellschaftlich überlegener Position handelnd begreifen. Zur Zeit des Paulus stellte sich das Thema „Christsein in der Politik, in der Wirtschaft etc.“ noch nicht. Wir müßten, wollten wir Paulus gerecht werden, an diesen Stellen weiterschreiben, nicht nur seine eigenen Worte wiederholen. Die Differenz ist situationsbedingt.

2. Beachtet man weiter, daß die „Demut“ im Griechentum den negativen Beigeschmack des unterwürfigen, kriecherischen hat, dann werden die Differenzen ebenfalls deutlich. Für die positive Wertung der Demut ist letztlich das Geschick Jesu bestimmend.

3. Die in den Lasterkatalogen aufgezählten Tatsünden entspringen der Begierde des Fleisches, die keine Macht über uns hat, sofern wir der Fügung des Geistes folgen. Diese Eindeutigkeit der Lebensorientierung ist in Gal 5 angesprochen (vgl. vor allem Gal 5,17). Peristasenkataloge verweisen bei Paulus auf die Gefährdungen der apostolischen Existenz, in der Stoa auf die äußere Gefährdung des stoischen Weisen, der aber doch innerlich mit „stoischer“ Ruhe reagiert, unerschütterlich bleibt. Die Begierde, die epithymia erscheint in stoischen, aber nicht in christlichen Peristasenkatalogen, weil sie von der Thora her verboten ist und die Gemeinde einen wenigstens prinzipiell sündenfreien Raum darstellt, Paulus es also dem Menschen durchaus zutraut, der Sünde erfolgreich Widerstand zu leisten (Das reformatorische simul iustus et peccator ist nach Paulus gerade nicht als Normalzustand anzusehen). Letztlich ist die Ekklesiologie für diese Differenzen leitend.